Säugling und Kind: Die ersten Jahre eines Menschen

Säugling und Kind: Die ersten Jahre eines Menschen
Säugling und Kind: Die ersten Jahre eines Menschen
 
Beim Menschen wie auch bei anderen Säugetieren ist die Kindheit die Zeit des weitaus intensivsten Lernens. So ist es nicht verwunderlich, dass die Kindheit des Menschen besonders lang ist. Wir sind dasjenige Wesen, das unvergleichlich viel mehr lernt als andere Tiere. Wie schon im ersten Kapitel dargelegt, dient die beim Menschen hoch entwickelte und bedeutsame Sexualität vor allem der Bindung zwischen Frau und Mann. Eine dauerhafte Beziehung ermöglicht eine kontinuierliche Zuwendung beider Eltern und ihrer Angehörigen gegenüber dem Kind, sodass es in einer emotional möglichst wenig belasteten Grundsituation all die Dinge aufnehmen und die Fähigkeiten erlernen kann, die für das spätere Leben in der jeweiligen Kultur wichtig sind.
 
 Veränderungen für Mutter und Kind
 
Wie schon bei der Betrachtung des Gebärens soll auch hier aus der Perspektive der Evolutionsbiologie verständlich gemacht werden, was es für unsere Spezies bedeutet, ein Kind geboren zu haben. Dabei können allerdings längst nicht alle Phasen der Kindheit behandelt werden.
 
Normalerweise kümmert sich die Mutter liebevoll um ihr Kind. Doch kommt es auch vor, dass Mütter ihre gerade geborenen Kinder aussetzen. Moses, der in einem wasserdichten Körbchen auf dem Nil schwamm, und die in unseren Städten immer wieder aufgefundenen Neugeborenen sind ein Beleg dafür. In den Klöstern vergangener Jahrhunderte gab es eine allgemein bekannte Öffnung in der Mauer, vor der man ein Kind ablegen konnte. Mithilfe einer eigens hierfür bestimmten Glocke konnte man kundtun, dass an der Mauer ein hilfloses Neugeborenes darauf wartete, von den Nonnen aufgenommen und aufgezogen zu werden.
 
Der erste Kontakt
 
Die Nabelschnur, die neun Monate lang die alles entscheidende Lebenspipeline war, verliert wenige Minuten nach Austritt des Kindes ihre Funktion. Sie hört auf zu pulsieren. Das Kind wird nun nicht mehr mit mütterlichem Sauerstoff und mit Nährstoffen versorgt. Wo man die Nabelschnur abbindet, ob am Kind oder am mutterseits gelegenen Stumpf, ist unterschiedlich. Bei uns wird an beiden Stellen eine Unterbindung angelegt, da man in der modernen Geburtshilfe meist sehr rasch die Nabelschnur durchtrennt. Dann ist es notwendig, zuvor Unterbindungen auszuführen, weil es sonst, vor allem beim Kind, zum Blutverlust kommt. In anderen Kulturen wird dagegen viel später abgenabelt, oft erst nach dem Erscheinen des Mutterkuchens. Man kann mit dem Durchtrennen der Nabelschnur lange warten, ohne dass das einen schädlichen Effekt auf das Kind hätte. Das Ausstoßen der Nachgeburt dauert etwa 10—20 Minuten. Dieser Zeitraum ist ausreichend, um die Nabelschnurgefäße völlig aus dem Kreislauf des Kindes abzuschalten, daher verliert das Neugeborene in der Regel auch kein Blut aus der Nabelwunde, wenn jetzt erst abgenabelt wird.
 
Auch andere Teile des Kreislaufsystems des Neugeborenen werden umgestaltet. Da die Lunge in der Fetalzeit außer Betrieb war, floss das von der Mutter mit Sauerstoff beladene Blut direkt von der rechten in die linke Herzkammer; dieses Loch, das Foramen ovale, schließt sich nun in Sekundenschnelle. Auch für den Anschluss des Lungenkreislaufs sind entscheidende Änderungen erforderlich. Mit dem Einsetzen der eigenen Atmung und nach der Abnabelung hat das Kind seine eigene Existenz begonnen. Spätestens jetzt nimmt die Mutter das Neugeborene auf. Meist wird es zuvor gereinigt, denn sein Körper ist mit Blut und vor allem mit der »Käseschmiere« bedeckt, die eine Schutzwirkung für die Haut des Kindes hat. In vielen Kulturen wird, wie bei uns, das Kind gewaschen oder gebadet, in anderen wird der Belag nur abgewischt.
 
Trotz der großen Belastung durch die Geburt sind die meisten Mütter in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern, es zu sich zu nehmen und zum ersten Mal anzulegen. Auch dieser Zeitpunkt ist zwischen den Kulturen sehr unterschiedlich: In manchen wird sofort angelegt, in anderen erst nach etwa 24 Stunden. Biologisch günstig ist es, nicht länger als ein paar Stunden damit zu warten, da die Neugeborenen dann schon ihren Bedarf nach Flüssigkeit und Kalorien durch Leckbewegungen signalisieren. Früher galt bei uns die Vormilch, das Kolostrum, als »schlechte« als unfertige, falsche Milch. Die Vormilch ist aber im Gegenteil ein wichtiger erster Nahrungs- und Schutzstoff, den die Mutter ihrem Kind überträgt. Sie ist reich an Proteinen, Mineralien und mütterlichen Antikörpern gegen Infektionskrankheiten.
 
 
Stillen ist nicht nur ein Übertragen von Nahrung (das steht in unserer Tradition meist im Vordergrund und wird oft zeitlich geregelt), sondern hat auch bedeutsame psychische Wirkungen auf das Kind, die gut mit dem Begriff »Trostsaugen« beschrieben werden. Wenn man Neugeborenen und Säuglingen ungehinderten Zugang zur Brust lässt, suchen sie diese Quelle der Nahrung und Geborgenheit sehr oft und in meist sehr kurzen Intervallen auf. Dazu bedarf es der engen Nähe zwischen Mutter und Kind, die für unsere Art (wie für die Menschenaffen) ganz typisch ist. Mehr als die Hälfte des Tages verbringen Säuglinge, zum Beispiel in Melanesien, in Körperkontakt mit der Mutter und (in geringerem Maße) mit anderen Bezugspersonen.
 
Unter den Lebensbedingungen unserer Kultur können sich Frauen nicht darauf verlassen, dass das Stillen (auch das vom Kind gesteuerte Stillen) durch Wirkung des Stillhormons Prolaktin auf die Eierstöcke über viele Monate zur Unfruchtbarkeit führt. Das liegt an der reichhaltigen Ernährung, die den Müttern hier zur Verfügung steht. Auch wird der Körper von stillenden Müttern bei uns kaum durch schwere Krankheiten so belastet, dass die Milchproduktion darunter leidet, wie es in vielen Entwicklungsländern der Fall ist.
 
Oft unbekannt ist die Auswirkung des Stillens nach Bedarf auf die Sexualfunktionen der Mutter: Die Schleimhaut in der Scheide kann sich unter der Wirkung von Prolaktin umbauen, und die Libido kann deutlich abnehmen. Viele stillende Mütter verspüren daher ein deutlich geringeres Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr — für sie meist weniger ein Problem als für die Männer. Biologisch gesehen sind diese Mechanismen sinnvoll, denn eine schnell folgende zweite Schwangerschaft war unter den Lebensbedingungen unserer Vorfahrinnen problematisch. Zwei Babys unterschiedlichen Alters konnten wohl nur die wenigsten Mütter stillen und versorgen.
 
Die Wochenbettdepression
 
Sobald das Neugeborene nach der Geburt zum ersten Mal an der Brust saugt, sind bei fast allen Müttern die Schmerzen und Mühen der Geburt schon vergessen. Die während der Geburt vom Körper produzierten Schmerzmittel (Endorphine) bewirken nach der Geburt im Normalfall für etliche Stunden eine euphorische Stimmungslage. Doch am zweiten Tag (bis etwa zum zehnten Tag) nach der Geburt beginnt bei der Hälfte der Mütter in den nordamerikanischen und europäischen Industrienationen eine Stimmungsstörung, die wir mit dem Begriff »Heultage« bezeichnen, im Englischen spricht man etwas beschönigender von »Baby-Blues« oder »Maternity-Blues«. Diese Stimmungsstörung nach der Geburt zeigt sich in Weinen, Traurigkeit, dem Gefühl der Hilflosigkeit, Verwirrtheit, Sorge, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und anderen Symptomen. Etwas später und mit schwereren Symptomen tritt in 10 bis 15 Prozent der Fälle die Wochenbettdepression auf.
 
In den medizinischen Lehrbüchern werden diese psychischen Störungen der Mütter im Wochenbett mit den vielen Veränderungen in ihrem Körper erklärt: Das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Hormonsystemen muss sich nach Schwangerschaft und Geburt neu einstellen. In den letzten Jahren allerdings ist fraglich geworden, ob diese medizinische Erklärung ausreichend ist. Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre es eine sehr schlechte Lösung, dass eine Mutter genau dann in Traurigkeit und Verwirrtheit verfällt, wenn sie ihr neues Kind versorgen muss und eine Bindung zu ihm aufbauen sollte. Und in der Tat, in anderen Kulturen ist der Baby-Blues auch viel seltener als bei uns. Es scheint also, dass wir die sich neu ausbildende physiologische Balance durch kulturelle Störfaktoren belasten, sodass es so häufig zu den depressiven Verstimmungen im Wochenbett kommt.
 
Neue Forschungen zeigen, dass verschiedene Elemente dabei bedeutsam sind. So empfinden die meisten Frauen die Situation in der Klinik als zu hektisch, vor allem bei einer Unterbringung im Mehrbettzimmer. Interessant ist, dass in praktisch allen Kulturen traditionellerweise während des Wochenbetts Mutter und Kind ganz abgeschirmt und in enger Zweisamkeit zusammen leben, sodass sich beide in größtmöglicher Ruhe aufeinander einstellen können. Bei der Entstehung der psychischen Störungen im Wochenbett kann auch eine Rolle spielen, dass die Neugeborenen bei uns meist nicht ständig bei der Mutter sind (die sich zum Teil durch deren ständige Präsenz überfordert fühlt) und dass diese (von der Mutter möglicherweise begrüßte) Trennung dazu beiträgt, dass eine Art unbewusster Trauerreaktion einsetzt.
 
Wichtig ist es, die psychische und soziale Situation der Mütter zu verbessern. Sie leiden auch darunter, dass ihre neue Rolle (vor allem beim ersten Kind) schlecht definiert ist, dass sie ihren Beruf vorläufig aufgeben müssen oder wollen und dass der Partner nur bedingt zur Unterstützung beitragen kann. In einer Mehrgenerationenfamilie lassen sich die Erfordernisse der Babybetreuung viel einfacher lösen. Bei uns müssen meist neue Formen wie Müttergruppen oder Stillberaterinnen gefunden werden.
 
 Unser Umgang mit Säuglingen
 
In vielen Kulturen ist die Verwendung von Wiege, Laufstall und Kinderbett unbekannt. Stattdessen trägt man die Säuglinge am eigenen Körper, meist im Hüftsitz oder auf der Schulter. Bernhard Hassenstein hat den menschlichen Säugling als »Tragling« bezeichnet. Das entspricht den Befunden bei den Menschenaffen, wo man von »Klammerling« sprechen könnte. In der Tat werden Menschenkinder auch überall dort, wo keine technischen Hilfsmittel wie Kinderwagen entwickelt wurden, getragen.
 
Das Tragen des Säuglings hat zur Folge, dass die Beine gespreizt werden, wodurch die Ausbildung der Hüftpfanne günstig beeinflusst wird. Sie ist bei Neugeborenen im Vergleich zu anderen Gelenken merkwürdig unfertig. Bei einigen Kindern ist das Pfannendach zu steil (mehr als 25 Prozent), sodass es zum Verrutschen des Oberschenkelkopfs nach oben kommen kann. Solche teilweisen oder vollständigen Hüftverrenkungen haben schwere Folgen, die sich bis in das späte Erwachsenenalter auswirken können. Aufwendige Operationen, bei denen künstliche Hüftgelenke eingesetzt werden, sind dann ein therapeutischer Ausweg.
 
Signale des Säuglings
 
In unserer Kultur existierte zumindest bis in die 1970er-Jahre hinein eine Tendenz, Signale der Säuglinge nicht unmittelbar zu beantworten. »Man darf die Kinder nicht so verzärteln«, »Die müssen sich an Regeln gewöhnen« oder »Schreien ist gut für die Lungen« sind bisweilen gehörte Äußerungen. Wir gehen teilweise noch immer davon aus, dass der Säugling am Erfolg lernt, dass er durch Wimmern, Weinen oder Schreien die Mutter und andere Betreuungspersonen manipulieren kann und dass er dieses schnell entdeckte Instrument dementsprechend geschickt und permanent einsetzt. Da wir aber Kinder haben möchten, welche die Eltern auch mal in Ruhe lassen und die möglichst bald unabhängig sein sollen, zögern wir unsere Beantwortung der kindlichen Signale oft hinaus und gehen auch nur bedingt auf deren offensichtliche Wünsche ein, lassen sie beispielsweise nicht im elterlichen Bett schlafen, sondern sorgen durch Schlafliedchen und andere Zeremonien dafür, dass sie im Kinderzimmer alleine ein- und möglichst durchschlafen.
 
Andere Kulturen haben ein anderes Bild von der Bedeutung kindlicher Signale. Für sie sind Laute des Unwohlseins Anlass, sich sofort um das Kind zu kümmern und im Normalfall durch Bieten der Brust das »Stillen« zu bewirken. Diese Haltung ist mit der biologischen Sicht gut vereinbar. Signale entwickeln sich bei Lebewesen aus gutem Grund, da so Bedürfnisse gezeigt werden. Werden sie prompt, widerspruchsfrei und angepasst beantwortet, bildet sich bei dem Sender der Signale, also beim Säugling, das Vertrauen heraus: Meine Zeichen werden verstanden. Resultate der Bindungsforschung haben ergeben, dass so die sichere Basis des Urvertrauens entsteht. Solche Kinder haben ein entspannteres Verhältnis zu ihrer Mutter und anderen Betreuungspersonen und können sich später auch besser lösen als die Kinder, die nicht die Möglichkeit hatten, solch ein solides Urvertrauen aufzubauen.
 
Warum haben Säuglinge überhaupt das Verlangen, vor allem bei ihrer Mutter zu sein, warum fordern sie die durch das Signal des Weinens und subtile mimisch-gestische Zeichen regulierte Nähe zur Bezugsperson? Wahrscheinlich ist der evolutionsbiologische Grund für die ausgeprägte Orientierung des Kindes auf die Mutter und andere Bezugspersonen das Erfordernis, dass es sehr vielfältig betreut werden muss: Füttern, Stillen, Schützen und Wärmen erfüllen ja nicht alle Bedürfnisse. Die Ausbildung des erwähnten Urvertrauens, die Vermittlung weiterer emotionaler sowie sozialer und intellektueller Reize sind ebenfalls wichtig. Sie lassen sich vor allem dann reibungslos und ohne großen Aufwand vermitteln, wenn die körperliche Nähe der Bezugspersonen gegeben ist, wenn das Kind nicht im Bettchen, Wippstuhl, Laufstall oder Kinderzimmer von den Erwachsenen getrennt ist.
 
Solange Säuglinge als typische »Traglinge« bei der Mutter oder bei anderen Betreuern sind, befinden sie sich da, wo das wirkliche Leben ist. Hier wirkt sich dann auch die »Drehscheibe Kind« aus, die dazu führt, dass Säuglinge und Kleinkinder Adressaten äußerst vielfältiger sozialer Kontaktaufnahmen sind, die ihrerseits eben gerade jene Vielfalt von Reizen bieten, die für die Ausbildung aller körperlichen, mentalen und psychischen Fähigkeiten des Kindes so wesentlich sind. Diese archetypischen Muster der frühkindlichen Sozialisation erfordern Nähe zwischen dem Säugling und den anderen. Im abgetrennten Kinderzimmer ist sie häufig nicht gegeben.
 
Babys: kompetente Kommunikationspartner
 
Lange war man der Meinung, dass Neugeborene und Säuglinge außer Trinken, Ausscheiden und Schlafen kaum eigenständige Verhaltensleistungen erbringen könnten. Mittlerweile ist klar, dass Babys ihre Mutter und andere Bezugspersonen vielfältig beeinflussen können. Dazu gehören nicht nur die schon erwähnten Signale des Unwohlseins, sondern vor allem die mindestens ebenso wirksamen Signale, mit denen sie Zufriedenheit, Geborgenheit, Interesse und Überraschung ausdrücken.
 
Wenn Erwachsene sich spontan Säuglingen nähern und mit ihnen Kontakt aufnehmen, wird ihre Mimik langsamer, betonter und öfter wiederholt. Die Sprache verändert sich besonders stark: Sie rutscht eine Oktave höher und wird zur »Babysprache« oder »Ammensprache«. Bisweilen macht man sich über diese auffällige Sprechweise lustig, und in manchen Ländern versucht man gar, die Babysprache zu verhindern, weil man meint, dass die Kinder dann später nicht richtig sprechen lernen. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. Säuglinge, die so sprachliche und mimische Signale in der ihnen gemäßen Form erhalten, können die Stufenleiter der Kompetenzen müheloser hinaufklettern als jene, mit denen Erwachsene nur Erwachsenensprache gesprochen haben. Die biologischen Anpassungsvorgänge an die Erfordernisse der optimalen Betreuung und Stimulation von Säuglingen erstrecken sich also bis auf unser sprachliches Verhalten und zeigen, wie unbewusst viele dieser Vorgänge ablaufen und wie sinnvoll sie dennoch sind.
 
 
Wie fantastisch Säuglinge und Kleinkinder an ihr zukünftiges Leben in einer komplexen Gemeinschaft aus sprechenden Wesen angepasst sind, wird einem dann bewusst, wenn man sich vergegenwärtigt, was ein so kleines Gehirn alles lernen muss. So muss es seine Muttersprache mit den enorm komplizierten Einzelheiten des Wortschatzes und der Grammatik erlernen, bei zweisprachigen Eltern oder Umgebungen sogar eine zweite Sprache. Dazu kommt das Wissen um die physische Umwelt und, vor allem, um die sehr vielfältigen sozialen Beziehungen, die das Kind in seiner Umgebung erlebt. Menschenkinder sind (im Gegensatz zu Menschenaffenkindern) enorm gut in der Lage, aus Begebenheiten, die sich mit anderen Personen ereignen, richtige Schlüsse zu ziehen. Wenn sie sehen, wie ein größeres Kind oder ein Erwachsener ein Problem löst, können sie die richtige Lösung aus der Beobachtung nachvollziehen. Bei all diesen erstaunlichen Lernvorgängen spielen emotionale Bewertungen, wie sie auch noch im Erwachsenenalter vorgenommen werden müssen, eine zentrale Rolle.
 
Kleinkinder und wir selbst können nur schlecht etwas in unserer Erinnerung abspeichern, wenn es nicht vorher emotional bewertet wurde. Erinnern, Finden intelligenter Lösungen und emotionales Einordnen sind also eng miteinander verknüpfte Prozesse, die zum Teil im limbischen System des Gehirns stattfinden. Daher ist es kein Wunder, dass Kinder immer dann besonders gut lernen, wenn das zu Lernende ihnen in einer emotional ansprechenden Weise begegnet — Langweiliges lernt man schlecht. Leider ist in unseren Schulen der Unterricht oft stark formalisiert. Der Lernstoff ist meist weit von der Lebenswirklichkeit entfernt und wird nicht in den Zusammenhang eingeordnet. Zudem ist die emotionale Situation meist nicht geeignet, den Lernstoff als Erinnerungen im limbischen System einzugraben. Es wundert daher nicht, dass Kinder in Kulturen, in denen es keinerlei Schule gibt, über ganz erstaunlich präzises und reichhaltiges Wissen verfügen. Sie haben es sich im Zusammensein mit Erwachsenen, Jugendlichen oder anderen Kindern in Situationen erworben, in denen es ihnen und den »Lehrern« Freude bereitete, einen komplizierten Zusammenhang zu verstehen beziehungsweise zu vermitteln. In der modernen Gesellschaft kann man aber nicht darauf vertrauen, dass alle Kinder ausreichend häufig in solch ideale Lernsituationen kommen. So müssen denn die oft verzweifelten Lehrerinnen und Lehrer viel Geduld aufbringen, um den Kindern den Unterschied zwischen Fichten und Tannen beizubringen, mit dem Erfolg, dass ihre Schützlinge prompt beide verwechseln, wenn sie den wirklichen Bäumen zum ersten Mal im Wald begegnen.
 
Die soziale Entwicklung des Kindes
 
Neben der eben beschriebenen eng miteinander verknüpften geistigen und emotionalen Entwicklung durchläuft ein Kind auch einen sozialen Reifungsprozess. Dazu gehört das Erlernen angemessener Verhaltensweisen, das Übernehmen anerkannter sozialer Rollen und die Entwicklung einer sozialen Einstellung Mitmenschen gegenüber. Das Elternhaus, heute auch die Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen bilden die Grundlagen für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten. Etwa ab dem 10. Lebensjahr kann das Kind seine Gefühle an die Anforderungen der Gruppe anpassen.
 
Aber schon ein bis drei Jahre später ist diese Anpassung an die Normen der Erwachsenen oft völlig »out«. Mit dem Eintritt in die Pubertät, diese schwierige Sturm-und-Drang-Zeit, beginnt für die Kinder ein meist schmerzlicher, aber notwendiger Abnabelungsprozess, in dessen Folge zunächst das bisher Erlernte vehement infrage gestellt wird. Mit dem Ende der Pubertät ist aus dem Kind ein Erwachsener geworden, der seinen eigenen Lebensweg finden muss.
 
Dr. Sabine Schiefenhövel-Barthel und Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Pubertät: Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Geburt: Ein Mensch erblickt das Licht der Welt
 
 
Hellbrügge, Theodor / Döring, Gerhard: Das Kind von 0-6. Lizenzausgabe Augsburg 1997.
 
Lehrbuch Entwicklungspsychologie, herausgegeben von Heidi Keller. Bern u. a. 1998.
 Mönks, Franz J. / Knoers, Alphons M. P.: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Aus dem Niederländischen. München u. a. 1996.
 Schneider, Sylvia: Das Eltern-Fragebuch. Wien 1994.
 Wendt, Dirk: Entwicklungspsychologie. Stuttgart u. a. 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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